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Marina Abramović: "Es ist doch offensichtlich, wie viel Macht wir Frauen besitzen."

  • Autorenbild: Redaktion
    Redaktion
  • 24. Jan.
  • 10 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. März

Joel Saget/AFP/Getty Images
Joel Saget/AFP/Getty Images

Am 4. Februar 2020 hat unser Schwestermagazin GALORE Interviews mit Marina Abramović ein Interview anlässlich ihres damals erschienenen Films "Body Of Truth" geführt. In ihrem Studio, das auch als Wohnung und Office fungiert, sitzt die weltberühmte Performance-Künstlerin am Laptop und ist bereit für das Interview. Die Zeit ist knapp, Fragen gibt es viele: zu ihrer Kunst und zur Selbstdisziplin, zur Kunst des Hörens und zum Film „Body Of Truth“, an dem sie mitgewirkt hat. Das Gesprächstempo ist beachtlich, am Ende des Interviews hört man sie noch seufzen, sie sagt: "Soooo viele Fragen." Dann legt sie auf.


Frau Abramović, Sie sind gerade aus Istanbul zurück nach New York gekommen. Wie erleben Sie als eine Künstlerin, die ständig unterwegs ist, das Reisen?

Ich kenne ja nichts anderes! Seit 40 Jahren lebe ich auf diese Art, ich reise um die Welt, verbringe sehr viel Zeit an Flughäfen, in Flugzeugen und in Autos. Meine Arbeit ist mit Trips verbunden, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich weniger auf Reisen wäre.


Was denken Sie, was dann anders wäre?

(überlegt) Es wäre vielleicht ein wenig entspannter. Nehmen Sie das Corona-Virus, ich war vor Kurzem in Abu Dhabi, jeder trug eine Maske, die Paranoia der Menschen war mit den Händen greifbar. Es war ein seltsames Gefühl.


Halten Sie die Angst vor Ansteckung für übertrieben?

Nein, ich habe selbst alle fünf Minuten meine Hände desinfiziert. Man weiß halt nicht, mit wem man zusammen in einem Flugzeug sitzt. Es bleibt eine Ungewissheit, zudem ist man vom Handeln anderer Menschen abhängig – und das mag ich generell nicht. Durchaus interessant wiederum finde ich, dass sich an der Verbreitung des Virus zeigt, wie sehr sich die Geografie der Welt verändert hat. Früher, noch vor gar nicht allzu vielen Jahren, sind die meisten Menschen ihr Leben lang zu Hause geblieben. Heute irren sehr viele von uns wie moderne Nomaden durch die Weltgeschichte. Ich selbst zähle ja auch dazu. (lacht)


Die Film-Dokumentation „Body Of Truth“ ist ein Porträt von vier Künstlerinnen, Sie sind eine davon. Die vier wirken extrem selbstbewusst, die Männer, die im Film auftauchen, werden von ihnen dirigiert. Sehen Sie „Body Of Truth“ als ein künstlerisches Argument für ein Matriarchat?

Ich glaube, dieses Matriarchat benötigt keine Argumente. Es ist doch offensichtlich, wie viel Macht wir Frauen besitzen. Zum Beispiel, weil wir fähig sind, neues Leben in unserem Körper entstehen zu lassen. Wir müssen diese Macht nur ausüben wollen! Bislang ist es so, dass wir Frauen es zulassen, dass in vielen Fällen die Männer die Macht ausüben. Wir sollten das ändern! Und es wird funktionieren! Ich habe im Verlauf der Jahre nicht ein Mal die Erfahrung gemacht, dass die Männer des Kunstbetriebs meine Kunst nicht akzeptieren würden. Woran es derzeit jedoch noch mangelt, sind Frauen, die ihre Prioritäten anders setzen. Frauen, die nicht sagen, ich möchte Kinder und eine Familie, sondern: Ich möchte Politikerin werden oder Künstlerin. Nehmen Sie Ihre Kanzlerin in Deutschland: Angela Merkel hat die Prioritäten anders gesetzt, und an ihrem Lebensweg sieht man sehr gut, was Frauen, die diese Agenda leben, schon heute erreichen können.


Im Film gibt es eine Szene, in der ein Fotokünstler ein Porträt von Ihnen in eine Granit-Skulptur umwandelt. Sie sagen daraufhin, Ihnen gefalle die Vorstellung, dass in einer fernen Zukunft Aliens kommen, diesen Granitstein finden und sich somit ein Bild davon machen können, wie wir Menschen ausgesehen haben. Was würden diese Aliens über den Homo Sapiens denken, wenn sie Ihr Gesicht entdecken?

(lacht) Was für eine Frage! Es ist mir ehrlich gesagt total egal, was Aliens über mein Gesicht denken werden. Erinnern Sie sich noch daran, als in den 70er-Jahren Kapseln ins Weltall geschossen wurden, in denen sich Audio-Informationen von Mozart und Beethoven sowie Bilddaten des „Vitruvianischen Menschen“ von Leonardo da Vinci befanden? Wir dachten, es wäre sinnvoll, diese Zeugnisse unserer menschlichen Zivilisation ins Universum zu schießen. Bislang haben wir noch keine Antwort erhalten. Vielleicht interessieren wir einfach niemanden da draußen. (lacht)


Aber der Gedanke, was andere Lebensformen von unserer menschlichen Kultur halten könnten, ist schon interessant, oder?

Das schon, ja. Es müssen ja nicht unbedingt Außerirdische sein. Es scheint mir derzeit realistischer zu sein, dass es eines Tages intelligente Roboterwesen geben wird. Und ich mag die Idee, dass diese Gestalten auf eine künstlerische Performance wie diesen Granitstein treffen und sich eines Tages Gedanken über uns Menschen machen werden. In diesem Moment würde unsere menschliche Kunst in einem anderen Kontext wahrgenommen werden, und diese Kontextverschiebung finde ich spannend. Eine solche ergibt sich übrigens auch bei Kunst, die auf die Möglichkeiten der Augmented Reality setzt: Mithilfe von speziellen Brillen erschafft diese erweiterte Realität einen neuen Kontext, in dem Kunst erfahrbar wird.


Sie haben mal gesagt, Sie könnten der virtuellen Realität nicht viel abgewinnen…

Das stimmt, aber der Augmented Reality schon. In der Virtual Reality spielen Körper keine Rolle mehr, die Wahrnehmung in dieser virtuellen Welt geschieht ausschließlich durch das Gehirn. Das ist mir zu wenig. In der Augmented Reality hingegen erfahren Sie als Betrachter auch weiterhin den Raum, in dem Sie sich aufhalten, und auch den Menschen, der neben Ihnen steht – jedoch gibt es als Erweiterung eine zweite Ebene. Diese Mischung finde ich interessant. Bei meiner Performance „The Life“ habe ich die Möglichkeiten dieser Kombination ausprobiert, indem ich mich als künstlich erstellte dreidimensionale Figur in einen Raum morphen ließ – aber nicht als Avatar, sondern als wirklich erfahrbarer Körper.


„Ich mag die Idee, dass sich eines Tages Roboterwesen Gedanken über uns Menschen machen werden.“

Haben Sie den Anspruch, dass Ihre Kunst unsterblich ist?

Ich denke, jeder Künstler hat den Wunsch, unsterblich zu sein. (lacht)


Wie sollen sich die künftigen Generationen an Sie erinnern?

Ich arbeite seit 50 Jahren daran, die Performance-Kunst in den Mainstream zu führen. Als ich angefangen habe, gab es diese Kunst-Kategorie noch nicht, als Performance-Künstlerin stand ich immer zwischen den Stühlen, in den Museen gab es keine Ideen, wie man Performance-Kunst zeigen könnte. Im besten Fall galt ich als mysteriöse Künstlerin. Das hat sich heute grundlegend geändert: Performance-Kunst hat sich etabliert, sie ist ein Teil des Mainstreams. Dass ich dazu beigetragen habe, das ist das, woran sich künftige Generationen gerne erinnern sollen. Auch habe ich die Zeit, in der Kunst entsteht, ausgedehnt: Meine Performance-Kunst geht nicht über Tage und Wochen, sie ging teilweise über Monate.


Gab es einen Moment, an dem Sie wussten: Jetzt ist das, was ich mache, im Mainstream angekommen?

Ich denke, das war die MoMa-Show. Alleine die Größe des Museums…


721 Stunden lang saßen Sie dort, schweigend, Besuchern in die Augen schauend. Rund 1500 Menschen saßen Ihnen eine Zeit lang gegenüber, mehr als 750.000 Besucher haben sich die Performance angeschaut. Wie haben Sie das ausgehalten?

Indem ich einfach anwesend war. Indem ich den Moment absorbierte und es mir gelang, den Schmerz loszulassen, der sich einstellt, wenn man so viele Stunden lang einfach nur so dasitzt.


Die MoMa-Show verlangte Ihnen enorm viel Disziplin ab, aber Sie schwebten nicht in Gefahr. Das war 1974 noch anders: Bei Ihrer Performance „Rhythm 0“ in Neapel standen Sie still da, während die Besucher Sie mit bereitgestellten Utensilien bearbeiteten. Unter diesen Dingen befanden sich eine Schere, ein Skalpell, ein geladener Revolver, den jemand Ihnen auch tatsächlich vor den Kopf hielt. Jetzt, wo Performance-Art Mainstream ist, geht es deutlich zivilisierter zu. Hand aufs Herz, vermissen Sie diese gefährlichen Zeiten?

Wissen Sie, in Neapel habe ich im Sinne der Performance-Kunst mit meinem Körper experimentiert. Das Resultat kennen wir, Sie haben es kurz beschrieben. Warum sollte ich diesen Ansatz nun noch einmal wiederholen? Man tappt als Künstler sehr schnell in die Falle, dass man den Erwartungen der Öffentlichkeit gerecht werden will. Mich darf das nicht interessieren. Deshalb habe ich zuletzt nicht mehr mit meinem Körper experimentiert, sondern mit meinem mentalen Zustand. Und damit gehe ich ein viel größeres Risiko ein.


Inwiefern?

Wir Menschen nutzen gerade mal 30 Prozent der Kapazität unseres Gehirns, noch immer wissen wir nicht, welche Prozesse sich in unserem Unterbewusstsein abspielen. Ja, meine Performance im MoMa war körperlich weniger riskant, als frühere Performances es waren. In mentaler Hinsicht war sie jedoch viel schwieriger.


Ist es für Sie einfacher, Menschen mit Ihrer Kunst zum Weinen oder zum Lachen zu bringen?

(überlegt) Leider bringe ich sie häufiger zum Weinen.


Warum leider?

Weil ich es mögen würde, wenn mein Publikum häufiger lacht. Humor ist ein wichtiger Bestandteil fast jeder Kunst.


Welche Ihrer Performances würden Sie rückblickend als die humorvollste bezeichnen?

Puh. (überlegt) Ich denke, „Balkan Erotic Epic“ aus dem Jahr 2005. Ich habe Elemente aus der Folklore des Balkans genommen und ihre Rituale in andere Kontexte gesetzt, so sind zum Beispiel Cartoons entstanden, die ich schon sehr komisch finde. Was aber noch witziger ist: Der amerikanische Schauspieler und Comedian Fred Armisen hat eine Serie namens „Documentary Now!“ entwickelt, mit der er Dokus persifliert. Eine Episode trägt den Titel „Waiting For The Artist“ und handelt von einer Performance-Künstlerin…


Es ist eine lupenreine Parodie Ihres Werks.

Genau, und ich garantiere Ihnen: Sie lachen von der ersten bis zur letzten Minute!


Ist Selbstironie für Künstler so wichtig wie die Sehnsucht, unsterblich zu sein?

Das eine funktioniert nicht ohne das andere.


Noch einmal zurück zur MoMa-Performance, es war auffällig, dass viele der Besucher, die Ihnen gegenübersaßen, zu weinen begannen. Dabei haben Sie nichts anderes gemacht, als diese Menschen anzuschauen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Es war nicht meine Intention, sie zum Weinen zu bringen. Wenn ihnen die Tränen kamen, dann als Reaktion auf meine Kunst.


„Woran es noch mangelt, sind Frauen, die ihre Prioritäten anders setzen.“

Als Künstlerin blieben Sie selbst komplett ungerührt – bis Ulay sich auf den Stuhl setzte, Ihr früherer Weg- und Lebensgefährte, zu dem Sie zuvor viele Jahre keinen Kontakt mehr hatten.

Ja, das war nicht abgesprochen. Ich wusste, dass er Ehrengast sein würde. Aber nicht, dass er auf dem Stuhl Platz nehmen würde. Als er dann kam, habe ich die Regeln gebrochen.


Ihnen kamen die Tränen, dann haben Sie ihm beide Hände entgegengehalten. Er nahm sie, Sie und er lächelten befreit, das Publikum applaudierte. Beinahe ein Hollywood-Moment.

Es war ein Moment, an dem ich meine Geschichte mit Ulay reflektierte, unsere gemeinsame Zeit, unsere gemeinsame Arbeit. Daher der Regelbruch. Wobei diese Regeln ja nicht von außen formuliert worden sind: Es waren meine Regeln, ich kann sie brechen, wie und wann ich will. Was nicht heißt, dass diese Regeln, die ich mir setze, nicht wichtig sind. Im Gegenteil, sie sind ein bedeutsamer Teil des Konzepts.


Warum?

Weil ich nie probe. Denn würde ich das tun, könnte ich merken, wie schwierig meine Performances sind – und dann käme ich vielleicht auf die Idee, sie zu verwerfen. Statt mich also durch Proben zu disziplinieren, setze ich mir strenge Regeln. Aber wie gesagt, diese Regeln gelten nur für mich, nicht für mein Publikum. Und wenn dann eben Ulay kommt und andere Regeln an den Tisch bringt, dann kann sich alles ändern.


Sich eigene Regeln aufzustellen: Ist das für Sie die Definition von Freiheit?

Es ist ein wichtiger Teil davon. Für mich ist es als Künstlerin unabdingbar, frei zu sein. Nur eine Freiheit in möglichst vielen Aspekten gibt mir die Möglichkeit, auch frei zu erschaffen. Danach habe ich mein Leben ausgerichtet, ich habe keinen Haushalt, um den ich mich kümmern müsste, habe keine Kinder, keine Hunde, Goldfische oder Schildkröten.


Auf der anderen Seite sind Sie niemals wirklich privat. Sie haben sogar einmal gesagt, Sie seien „public domain“ – also eine Art Allgemeingut.

Dieser Status, in der Öffentlichkeit zu stehen, ist Teil meines Jobs als Performance-Künstlerin. Meine Kunst findet eben in der Öffentlichkeit statt. Bei einem bildenden Künstler ist das anders, man verbringt die Zeit im Atelier, auch bei der Ausstellung der Kunst muss man nicht anwesend sein. Ich hingegen arbeite mit meinem Körper – und dieser Ansatz funktioniert ohne Anwesenheit nun einmal nicht. Wobei es schon interessant wäre, dann und wann anonym durch die Welt zu gehen. Vielleicht mache ich das mal, mit Perücke und Sonnenbrille. Wobei, einmal habe ich mich tatsächlich verkleidet. Ich war in Indien, dort hielt man mich für eine Touristin aus der Fremde, dauernd wurde ich angesprochen, ich hatte keine ruhige Minute. Also ging ich in das Geschäft einer muslimischen Schneiderin und fragte sie, ob sie mir eine Burka herstellen könnte. Sie sagte, ja, das ginge, das dauere zwei Stunden. Ich wartete, trank Tee. Als die Burka fertig war, zog ich sie an, man sah nur noch meine Augen. Ich ging so gekleidet zurück auf die Straße – und in diesem Augenblick fühlte ich mich wirklich frei. Niemand berührte mich, niemand sprach mich an. Es war wunderbar! Schwierig wurde es erst wieder im Hotel: Weil mich die Angestellten an der Rezeption nicht erkannten, wollten sie mir den Schlüssel nicht geben.


Wäre das Leben inkognito eine Option, falls Sie eines Tages als Künstlerin in den Ruhestand gehen sollten?

Oh, der Gedanke an einen Ruhestand gefällt mir gar nicht. Einige der Menschen im Ruhestand, denen ich begegne, haben ihr Leben aufgegeben, nun warten sie auf den Tod. Ich hoffe, zu sterben, wenn ich noch arbeite. Es gibt viel zu tun, Performances, Training junger Künstlerinnen und Künstler, Arbeit für Wohltätigkeitsorganisationen – nein, ich kann mir nicht vorstellen, in eine Art Ruhestand zu gehen! Viel mehr als die Ruhe auf Erden interessiert mich das, was nach dem Tod passiert: Nicht umsonst trägt meine Schau, die im September in London startet, den Titel „After Life“.


„Körper besitzen eine große Weisheit. Wir sollten viel mehr auf unsere Körper hören, wir würden dann ein besseres Leben führen.“

Noch einmal zurück zur Dokumentation „Body Of Truth“: Sie sagen im Film, der Kopf lüge, der Körper nicht. Was meinen Sie damit?

Körper besitzen eine große Weisheit. Wir sollten daher viel mehr auf unsere Körper hören, wir würden dann ein besseres Leben führen. Ein Leben, das mehr auf Wahrheiten basiert.


Wie passt das zusammen mit dem Trend, den eigenen Körper extrem zu modifizieren, sei es durch Piercings oder Tattoos, durch Schönheitsoperationen oder extremen Muskelaufbau?

Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Das ist eine interessante Frage, aber man müsste sie denjenigen stellen, die das tun. Ich selbst habe kein Tattoo, kein Piercing. Ich vermute, hinter diesen Praktiken steckt die Sehnsucht nach Authentizität, Identität und Persönlichkeit. Die Leute versuchen, durch diese Dinge Teil eines modernen Stammes zu werden, nicht ohne Grund waren Tätowierungen und Piercings bereits in uralten Zivilisationen Rituale, die die Zugehörigkeit zu einem Stamm dokumentierten. Vielleicht wiederholt der aktuelle Trend diese Vorgänge, wodurch der Körper zu einer Art von Landschaft wird, die mithilfe von Tattoos ausgemalt wird.


Aber die Idee eines Körpers als Landschaft müsste Ihnen gefallen, oder?

Schon, ja. Mein Körper hat Narben. Diese sind jedoch das Resultat meiner Arbeit. Ich betrachte sie als Nebeneffekte meiner körperlich risikoreichen Performances.


Im vergangenen Jahr haben Sie in der Alten Oper in Frankfurt ein Kunstprojekt für „richtiges Hören“ initiiert: Die Besucher wurden angeleitet, in absoluter Konzentration zu hören, um diese sinnliche Fähigkeit wiederzuentdecken. Haben Sie die Befürchtung, dass wir uns zu einer tauben Gesellschaft entwickeln?

Absolut! Schauen Sie doch, was um uns herum alles lärmt. Und was gerade in der Lebenswelt der jungen Generation lärmt, in der Virtual Reality und in den Videospielen. Wir müssen das Hören neu lernen, glaube ich. Anfangen sollte das schon in den Schulen, aber auch wir Erwachsenen sind gefordert, achtsam zu sein, zu meditieren. Ich befürchte sonst, dass wir den Schaden nicht mehr reparieren können. Aber noch ist es nicht zu spät. Vor Kurzem habe ich einem zwölf Jahre alten Jungen ein paar Kopfhörer gegeben, die Geräusche aus der Umgebung abblocken. Er setzte sie auf und sagte: „Die sind kaputt!“ Ich entgegnete: „Nein, die sind nicht dafür da, Musik zu hören, sondern die Stille zu entdecken.“ Er verstand, ließ sich darauf ein – und ist heute ganz scharf darauf, die Kopfhörer aufzusetzen, um der Stille zu lauschen. Sie sehen: Es ist an uns, mit Ideen die Dinge zu ändern.


Zur Person

Marina Abramović (geboren am 30.11.1946 in Belgrad) wuchs in Serbien als Kind von Eltern auf, die als Partisanen Widerstand gegen den Faschismus leisteten und später für einen kommunistischen Staat kämpften. Marina Abramović sagt, insbesondere ihre Mutter habe ihr die Bedeutung von Disziplin gelehrt. Von 1965 bis 1970 studierte Abramović in Belgrad, Mitte der 70er-Jahre siedelte sie nach Amsterdam um. Zunächst zusammen mit ihrem Kunst- und Lebenspartner Ulay und später als Solo-Artistin führte sie die damals noch neue Kunstrichtung der Performance-Art in den Mainstream. Ihr Erfolg gipfelte in der Ausstellung „The Artist Is Present“ im MoMa in New York, die sie endgültig zum Superstar der Kunstszene machte. Sie lebt in New York.

 
 
 

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