„Sex ist nie nur Sex“ – Heike Kleen über Macht, Nähe und gesellschaftliche Rollen
- Redaktion
- 13. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juni
Die Autorin Heike Kleen spricht über Sex – und meint damit immer auch Nähe, Macht, Verletzlichkeit und das, was unsere Gesellschaft gerade umtreibt. Als SPIEGEL-Kolumnistin hat sie viele Tabus entstaubt. Jetzt erscheint ihr Buch „ZusammenKommen“, das Kolumnen, Interviews und intime Recherchen versammelt – angereichert mit persönlichen Erfahrungen und einer klaren Botschaft: Wir brauchen einander, in jeder Lebenslage.

Frau Kleen, der Titel Ihres Buchs ist „ZusammenKommen“? Was bedeutet diese Doppeldeutigkeit für Sie?
Heike Kleen: Ich wollte einen Titel, bei dem man kurz hängen bleibt. „Zusammenkommen“ meint beides: körperlich, also sexuell – aber eben auch gesellschaftlich. Wir leben in einer Zeit, in der sich Frauen und Männer immer weiter voneinander entfernen. Politisch, emotional, kommunikativ. Junge Männer rutschen nach rechts, junge Frauen denken emanzipierter, freier. Gleichzeitig glauben viele Männer, sie müssten wieder in alte Rollenbilder zurückfallen, um als „richtige Männer“ zu gelten. Und Frauen sagen: Wir brauchen euch nicht mehr. Wir können unser eigenes Geld verdienen, unsere Kinder allein großziehen. Ich will aber nicht, dass wir in getrennten Welten leben – sondern dass wir uns wieder auf Augenhöhe begegnen und zuhören. Auch im Bett.
Was hindert uns daran?
Das Patriarchat. Ganz klar. Es wirkt in unseren Köpfen, in unseren Beziehungen, in unserer Lust. Frauen schultern Care-Arbeit, Männer müssen stark sein. Beide leiden. Und je mehr Gleichberechtigung gefordert wird, desto mehr erleben wir auch den Backlash: Das Patriarchat schlägt zurück. Siehe Trump. Siehe Femizide. Siehe die Angst mancher Männer vor starken Frauen. Aber: Gleichberechtigung macht nicht kaputt – sie macht Lust auf mehr.
Sie waren im Rahmen der Recherche für dieses Buch auch im Swingerclub, im Dominus-Studio, bei Tantra-Massagen…
Ich habe da einiges mitgenommen – bildlich und buchstäblich. Ich war bei einer Tantra-Massage und habe mit einer Frau gesprochen, die früher katholische Grundschullehrerin war. Jetzt macht sie Tantra, hat zur Befreiung sinnbildlich jede Perle ihres Rosenkranzes gegen einen Liebhaber getauscht. Ich war in einem hochpreisigen Swingerclub mit Buffet, DJ und oben jeder Menge Gevögel. Ich war bei einem Dominus, der mir demonstrierte, wie er mich fesseln und auf die Knie schicken würde – während im Flur ein Mann im Käfig lag und mich anguckte. Und ja, auf einer Frauen-Erotikparty gab es Flaschendrehen, Burlesque, erotische Kurzgeschichten und keine Frau hat mitten im Gespräch plötzlich ihre Tonlage oder ihr Verhalten für einen Mann geändert – weil es keinen gab. Das fand ich sehr angenehm.
Was haben Sie dabei gelernt?
Dass Sex unglaublich individuell ist – und eigentlich nie rational erklärbar. Es gibt Männer mit Brillenfetisch, Frauen mit Gewaltfantasien, Paare, die lieber still nebeneinander liegen. Wir werden nie ganz verstehen, warum uns etwas erregt – aber wir sollten aufhören, andere dafür zu verurteilen. Solange Konsens da ist, ist fast alles erlaubt.
Und wie steht es um das Begehren?
Frauen wollen begehrt werden. Das ist oft ihr größter Erregungsfaktor – nicht der männliche Körper an sich, sondern die Aufmerksamkeit. Das Gefühl: Ich bin gemeint, ich bin begehrenswert. Und Männer? Viele übertragen ihre eigene Sexualität auf Frauen. Denken, ein Dickpic funktioniert wie ein Busenbild. Tut es aber nicht. Wirklich nicht.
Sie warnen auch vor dem Trend zu „Rough Sex“ – warum?
Rough Sex ist an sich nicht das Problem – aber das fehlende Gespräch davor. Viele Männer hauen plötzlich auf den Po, würgen oder greifen grob zu, weil sie es in Pornos gesehen haben. Aber wenn Frauen dabei Angst bekommen, ist das kein Sex – sondern ein Übergriff. Frauen müssen sich sicher fühlen, um sich wirklich zu öffnen und sich zu entspannen statt anspannen. Das ist ein Grundbedürfnis, kein Luxus.
Eine Ihrer Thesen lautet: Frauen sollten mehr Liebhaber haben. Warum?
Ja – aus Neugier, Selbstliebe, Entdeckergeist. Ohne Drama, ohne Liebe, ohne Verpflichtung. Die oben erwähnte Tantralehrerin meinte: „Jede Frau braucht mindestens fünf Liebhaber, um zu wissen, was ihr gefällt.“ Und warum nicht? Männer dürfen das doch auch. Es geht um Freiheit. Um das Recht, Lust zu haben – ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Sie sprechen auch über Schönheitsdruck, Vulvas und Selbstwahrnehmung…
Ich habe mir eine Vulvalibrary angesehen (https://www.labialibrary.org.au/labia_gallery/) – ca. 50 Vulven, alle einzigartig. Keine ist wie die andere. Aber weil in Pornos nur makellose Designer-Vulven gezeigt werden, glauben viele Frauen, mit ihrer sei „etwas nicht in Ordnung“.Das ist fatal. Wir brauchen mehr Sichtbarkeit, mehr Ehrlichkeit – und weniger Scham.
Wie wichtig ist Sex für Sie persönlich?
Ich finde: Man muss keinen Sex haben – aber wenn, dann sollte er gut sein, bewusst und natürlich einvernehmlich. Und gut bedeutet nicht unbedingt spektakulär. Ich habe das Konzept von „Slow Sex“ entdeckt. Sex ohne Ziel, ohne Druck, ohne Orgasmuspflicht. Einfach beieinander sein und spüren, was ist. Das ist viel intimer als eine schnelle Nummer. Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass nur Penetrationssex „richtiger“ Sex ist und stattdessen Sex neu definieren, jeder für sich. Dazu kann auch gehören, sich liebevoll nach dem Duschen einzucremen
Sie schreiben auch über die Wechseljahre…
Klar. Ich bin selbst mittendrin. Da passiert so viel. Körperlich, emotional. Es ist wie eine zweite Pubertät – nur mit mehr Bewusstsein. Manche Frauen gehen in „Sexrente“, andere entdecken ihre Lust neu, oft auch mit Frauen. Ich war auf einer reinen Frauenparty und dachte: Wow. Diese liebevolle Atmosphäre, kein Druck, kein männlicher Blick, das war eindrucksvoll. Ich finde: Die Wechseljahre sind ein guter Moment, um nochmal zu fragen: Was will ich wirklich?
Für wen ist Ihr Buch?
Für alle, die sich mit der eigenen Lust (nochmal) beschäftigen wollen. Für Frauen, die zu oft zu wenig bekommen haben – und für Männer, die sich fragen: Wie kann ich es anders machen? Für Menschen, die wissen: Sex ist nie nur Sex. Es geht um Macht, um Freiheit, um Nähe, um Würde. Und darum, dass wir uns als Menschen erkennen – nicht als Rollenspieler.
Und was wünschen Sie sich am meisten?
Mehr Zärtlichkeit. Mehr Zuhören. Und weniger Urteile. Ich bin überzeugt: Wenn wir wirklich zusammenkommen wollen – körperlich, emotional, gesellschaftlich –, brauchen wir neue Erzählungen. Und neue Männer. Männer, die zuhören, reflektieren, sich zeigen. Die sich gegen andere Männer stellen, wenn es nötig ist. Und aufhören, Angst vor der Stärke von Frauen zu haben.

Fotocredits: Eva Häberle
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